Das lyrische Selbst

„Weich, weit, mit feinem, silbernen Glanz erklingt diese Stimme. In Arkadien kommt sie an, wundersam magisch uns verzaubernd“, heißt es in einem Gedicht von Inge Müncher und ich denke: Ja, so schreibt sie. Ihre neueste Geschichte über Mulimo ist unser Aufhänger, noch einmal über ihre Kunst des ‚empfindsamen Erzählens‘ zu reden. Ich besuche die Autorin in ihrem Haus in Bünde, dem geräumigen Stadthaus, das ihre Eltern gebaut haben und in dem sie geboren ist. Der Ort, an dem sie bis heute am liebsten ist und der in ihren Erzählungen immer wieder eine Rolle spielt.

Was es bedeutet, Heimat zu verlieren, erfährt sie als Kind. Schon damals ist es ihre sensible Wahrnehmung für die Empfindungen anderer Menschen, die ihr Erleben in der NS-Zeit und nach dem Krieg prägt.

Poesie erweitert seelische Kräfte

Aufschreiben würde sie all das erst viel später, als sich der musisch begabten, jungen Frau das Schreiben als Weg zum Selbstausdruck und zur Bewältigung schmerzlicher Erfahrungen offenbart. Durch das Schreiben, die poetische Gestaltung, wie sie es nennt, habe sie es immer wieder geschafft, sich von Verspannungen, Zweifeln, Ängsten und negativen Vorstellungen zu lösen. Es habe ihre geistig-seelischen Kräfte erweitert, erzählt die zerbrechliche alte Dame mit wachem Geist.

Die Suche nach dem Selbstausdruck

Schreiben war und ist für sie die ‚Suche nach dem Ausdruck der erinnerten Zeit‘. Für mich ist sie eine Bewahrerin, die an eine Zeit erinnert, die sie sich und uns allen nie und nimmer zurück wünscht. Menschenverachtung dürfe es einfach nicht geben.

Inge Müncher fasst Ungeheuerliches in leise, behutsame Töne. Sie webt Erlebtes und Empfundenes als fein gesponnene Wortfäden in ihre Texte ein. Ohne erhobenen Zeigefinger, nicht mahnend, nicht einmal erklärend. Allein mit dem Wunsch, dass die Gefühle, die sie hineingibt, bei ihren Lesern und Leserinnen ankommen. Sie mutet und traut uns zu, dass wir mitfühlen, um schließlich zu verstehen und vielleicht danach zu handeln. Nur das Empfinden erreiche den Menschen in seinem Wesen und Wirken, sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen.

Manipulation mag sie nicht. Wohin das führt, hat sie am eigenen Leib erfahren. Die Propaganda im dritten Reich war ihr zuwider. Es gab kein Entrinnen vor menschenverachtenden Bildern und Parolen. Die damit verbundenen Gefühle wie Ohnmacht und Hilflosigkeit stürzen sie noch Jahrzehnte danach in tiefe Verzweiflung. Sie ist bereits Mutter von zwei Kindern, als sie das Schreiben als musischen Weg zur Befreiung aus inneren Krisen entdeckt. Auch die Geschichte über Mulimo erzählt davon:

„Wie in der Musik konnte ich hier meinen Selbstausdruck finden, nur eben leise. So störte ich niemanden und je mehr ich schrieb, umso mehr liebte ich es. Ich schreibe bis heute täglich.“

Leicht war es nicht, alles Erlebte in einer Form zu Papier zu bringen, die ihr selbst gefiel. Ob Prosa oder Lyrik, stets sind Inge Münchers Worte mit größter Sorgfalt gewählt. Keineswegs einfach so herunter geschrieben. Da sitzt jeder Satz, von Anfang bis Ende. An jedem Text hat sie lange gefeilt, nichts dem Zufall überlassen. Von der ersten Idee bis zum druckfertigen Text ist es ein Weg größter Aufmerksamkeit. Denn erst wenn Melodie und Rhythmus perfekt miteinander harmonieren, hält sie einen Text für gelungen. Daher ist ihr die Rezitation so wichtig. Das Vorlesen des Textes sei zudem ein adäquates Mittel, um ihn auf seinen Klang zu prüfen: „Wenn er nicht schön klingt, dann drücke ich mich anders aus. Solange bis er mir melodisch und rhythmisch gefällt.“

Das lyrische Ich selbst

Schon als Schülerin begeistert sich Inge Müncher für die Feinheiten und die Wirkung von Sprache, ob auf der Theaterbühne oder als Poesie. Im Studium der Pädagogik, mit den Schwerpunkten Deutsch und Musik, und später in der Literaturwissenschaft vertieft sie ihr Interesse. Die Deutschlehrerin verlässt den Schuldienst, um sich der Erziehung ihrer beiden Kinder zu widmen. Sie beginnt zu schreiben, wird Autorin und übersetzt unter anderem drei Gedichtzyklen von Rainer Maria Rilke aus dem Französischen ins Deutsche. So wird neben ihrem Buch ‚Zeitspurensuche‘ und ihrem Gedichtband ‚Das Geheimnis der Seerosen‘ eine zweisprachige Ausgabe der Lyrik von Rainer Maria Rilke im Dirk Riemann Verlag veröffentlicht.

Auch die Texte und Lyrik von Künstlerinnen und Künstlern, die sie schätzte und bewunderte, waren heilsam für das eigene Empfinden. Inge Müncher ist Rilke-Liebhaberin, mit einem besonderen Faible für seine Gedichte in französischer Sprache, insbesondere dem Zyklus ‚Les Roses‘. „Da hier die Rose lyrisch als Symbol der Kunst, der poetischen Intuition, als halb geöffnetes Buch, vollendetes Wort und symbolisch als das Lyrische Ich selbst gestaltet ist, die Kunst und der Künstler als das verlockendste Motiv des Dichters“, schreibt sie im Vorwort des Buches.

„Die Rose wird zur Mystikerin, wenn sie ihre Schwestern berührt, Zartes mit Zartem sich vereint, wo sich einer Aura der Liebe das Leiden nähert.“

Ich teile die Liebe zu Rosen mit meiner Gastgeberin. In der Lyrik von Rainer Maria Rilke, ebenso wie in der Natur und natürlich als edle ätherische Öle. Die Rose blüht allein um ihretwillen, sie will niemanden beeindrucken und tut es doch. Ganz genau so geht es mir im Gespräch mit Inge Müncher, der es in ihren Texten immer wieder gelingt, Zartes mit Zartem zu vereinen und sich mit Liebe dem Leiden nähert. Nicht mutig, sondern selbstverständlich. Es ist ein sanfter Weg, um tiefe Gefühle aus dem Verborgenen ins Licht zu holen und inneren Frieden zu finden. Niemals, um mit irgendjemanden abzurechnen, schon gar nicht mit dem Leben.

Ja, Schmerz erfährt Linderung durch Anteilnahme, wir sehen das beide so. Gerade dort, wo wir nichts mehr tun können als mitzufühlen. Es gefiel schon der Schülerin Inge Müncher nicht, wenn die Lehrerin, die morgens vor Beginn des Unterrichts vor der Klasse laut für den ‚geliebten Führer‘ betete und ihre Abneigung für ihre Schulfreundin zeigte. „Ruths Heft fasste sie mit spitzen Fingern an, hielt es weit von sich, als wenn sie die Berührung verabscheute.“ Sie konnte nicht verstehen, warum es solch eine Verachtung für jüdische Menschen gab.

Kein Abschied von Ruth

Ihre Empfindungen für Ruth begleiten sie durch ihr ganzes langes Leben, Inge Müncher ist inzwischen 90 Jahre alt. „Alles, was mit Ruth war, bewegt mich heute noch“, sagt sie und erinnert: „Ein kleines, zierliches Mädchen mit glattem kurzgeschnittenen Haar und offenem aufmerksamen Blick, die Hände gefaltet, so saß sie auf ihrem Platz in der Schulklasse…“ Sie und ihre Mitschüler und Mitschülerinnen waren machtlos gegen die offensive Ablehnung der Lehrerin, die eines Tages sagte: „Pack Deine Sachen, geh nach Hause, Ruth!“

Ruth packte ihre Sachen und ging. Erst nach 65 Jahren sehen sich die Freundinnen wieder. „Ruth lebt, sie konnte rechtzeitig mit ihrer Familie nach Amerika flüchten“, erfährt Inge Müncher endlich durch die Gruppe ‚Netzwerk‘ des Bünder Marktgymnasiums. Eine überraschende, glückliche Nachricht! Die alten Schulfreundinnen treffen sich wieder. Gemeinsam lesen sie vier Strophen des Gedichtes ‚Bei Goldhähnchens‘ von Heinrich Seidel, das sie noch aus der Schulzeit kennen. Sie sitzen dabei nebeneinander auf dem Sofa, ihre Stimmen vereinen sich zu einem intensiven harmonischen Klang. Ruth lächelt.

Du gehst

Klein und hilflos
sitzt du da
auf deinem Platz
mit dem Tintenfass,
deine Lippen
bewegen sich kaum.
Schatten fallen
auf dein Gesicht
über dir
der gelbe Stern.
Pack deine Sachen,
geh nach Hause, Ruth,
sagt sie zu dir.
Du gehst
und fragst nicht
warum,
und wir sehen dich
niemals mehr.

Lesen Sie die Geschichte von Mulimo und mehr über Inge Münchers Zeitspurensuche.

Quelle: Gedicht ‚Du gehtst‘ aus der Buchausgabe ‚Das Geheimnis der Seerosen‘ im Dirk Riemann Verlag 2011

Headfoto: Andreas Gruhl / Adobe Stock

Cover der Bücher von Inge Müncher mit freundlicher Genehmigung von Dirk Riemann
Umschlaggestaltung: Dirk Riemann Verlag, ‚Das Geheimnis der Seerosen‘, Ausschnitt aus dem Bild Seerosen von Claude Monet; ‚Zeitspurensuche‘, Bild ‚Winter in Gewinghausen‘ von Werner R. Neck, ‚Gedichtband Rilke‘, Umschlagfoto Brigitte Hachenburg Exklusiv     

2 Antworten auf „Das lyrische Selbst“

  1. Inge Müncher hat mit ihrer fein gesponnenen, fantasievollen Lyrik zahllose Herzen erreicht und ihre Leser immer wieder tief berührt. In der Bünder Schreibwerkstatt war sie als Mitglied lange nicht wegzudenken, bevor sie – wohl wegen des mittlerweile erreichten hohen Alters – nicht mehr oft teilnehmen konnte. Hoffentlich bleibt uns Inge Müncher noch lange erhalten. Gitta Wittschier

  2. Ja, liebe Gitta, das wünsche ich auch. In der Schreibwerkstatt habe ich Inge Müncher kennengelernt. Und war sofort von Ihren Geschichten und Gedichten begeistert. Und Deine gefallen mir ebenfalls gut! Ich freue mich schon darauf, dass ich die Lovestory von ‚Romea und Julio‘ demnächst auf meinen Blog stellen darf. Herzlichst, Gaby

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